Offene Rechnungen

Es zwickte und klemmte das Kollar an meinem faltigen Hals. So als wüsste es, dass ich es zu Unrecht trage.
„Entschuldigen Sie bitte. Können Sie mir sagen, wo ich die Herrengasse 23 finde,“ fragte ich den adretten Kellner des kleinen Cafés.
„Moment, ich schreibe ihnen auf, wie Sie hinkommen,“ antwortete er und zog einen kleinen Gastroblock aus seiner Hemdtasche. „Was wollen Sie bei Frau Schulte?“
Obwohl ich nicht der Meinung war, dass es ihn etwas anging, antwortete ich, indem ich meinen Schal etwas herunter zog. Fragend schaute er mich an. Im Spiegel hinter dem Tresen konnte ich sehen, dass sich das verflixte Ding versteckt hatte. Ich sog den Schal weiter hinunter. 
„Ah, Sie sind unser neuer Pastor. Wir haben gar nicht damit gerechnet das so schnell jemand Neues kommt. Unser alter Pastor Friedrich hatte vor Kurzem einen tödlichen Unfall mit dem Fahrrad. Ob das am Schnaps lag oder am Wetter weiß man nicht. Jedenfalls ist er tot.“
„Ich bin nur vorübergehend als Seelsorger hier,“ antwortete ich und dachte etwas unbehaglich an den kleinen, dicken Mann auf dem klapprigen Fahrrad. Das verdammte Kollar schien gleich noch mal eine Nummer kleiner zu werden. 
„Es heißt das sie ihren Mann umgebracht hat,“ ertönte ein zartes Stimmchen hinter meinem Rücken.
Ich drehte mich um. Die beiden alten Damen hatte ich beim Hereinkommen gar nicht bemerkt.
„Ach ja?“
„Das war vor 12 Jahren groß in der Zeitung. Ihr Mann war Millionär und ist damals verschwunden. Kurz vorher hatten sie noch die alte Villa oben im Wald gekauft. Sie wurde verdächtigt, aber man konnte ihr nie etwas nachweisen. Letztes Jahr hat sie ihn für tot erklären lassen. Und alles geerbt. Das stand auch in der Zeitung.“
„Danke für die Information gnädige Frau,“ antworte ich und mache eine kleine Verbeugung in ihre Richtung.
„Ich wollte nur das Sie wissen mit wem Sie es zu tun haben wenn sie da rauf gehen Herr Pastor,“ antwortete sie. „Nicht das Ihnen auch noch was passiert“. 
„Sie ist verrückt. Und gefährlich.“ Jetzt mischte sich die andere Dame ins Gespräch. 
„An dem Tag, an dem unser Pastor tödlich verunglückt ist, kam er von ihr. Sie hat ihm bestimmt was in den Tee gemischt.“
„Meine Damen, nun lasst es mal gut sein. Sie ist eine einsame ältere Frau. Nur weil sie einmal unter Verdacht stand, heißt es doch noch nicht, dass sie ständig Leute umbringt.“ Der Kellner hielt beim Schreiben inne und musterte die beiden alten Damen streng. 
„Das sagst du nur weil sie dich auch um den Finger gewickelt hat. Jawoll, bezirzt hat sie dich und jetzt bist du ihr genau so verfallen wie unser alter Herr Pastor.“
„Wie das? Ich habe sie nie kennengelernt. Und ihr beiden auch nicht. Also hört auf solche Behauptungen in die Welt zu setzen.“
Ich schaute mit offenem Mund zwischen den dreien hin und her. Die beiden alten Damen rafften mit beleidigten Gesichtern ihre Sachen zusammen und rauschten aus dem Café. 
„Entschuldigen Sie bitte die beiden. Niemand hier außer unserem verstorbenen Herrn Pastor kennt Frau Schulte. Und der hat nicht über sie gesprochen. Über die Jahre haben sich die alten Gerüchte gut gehalten und neue sind hinzugekommen.“
Er reichte mir den Zettel mit der Wegbeschreibung. 
„Hier“, sagte er, „bitte seien Sie vorsichtig.“ „Es heißt auch, das sie gut mit dem Gewehr umgehen kann und nicht zögert zu schießen.“
Die Herrengasse erwies sich als kleine, steile Straße und zog sich beinahe endlos den Berg hinauf. Die letzten Häuser hatte ich schon lange hinter mir gelassen, als ich plötzlich vor einem großen, schmiedeeisernem Tor stand. Eine Klingel gab es nicht, aber das Tor stand gerade so weit offen, das ein schlanker Mensch hindurchschlüpfen konnte. Ich zwängte mich hindurch und kaum hatte ich es geschafft, hörte ich eine kalte Stimme hinter meinem Rücken und das klicken eines Gewehres.
„Justus, ich habe schon so lange auf dich gewartet.“

Behutsam schloss ich das Tor hinter mir. Ich war gekommen, um mir zu nehmen, was mir meiner Meinung nach zustand. Und jetzt hatte ich alles gegeben, was ich zu geben hatte. Zum Schluss dann auch noch mein Herz. Diese letzte Tatsache und deren Sinnlosigkeit lagen wie ein Felsbrocken auf meiner Brust und ließen mich nach Luft ringen. Wie in Zeitlupe ging ich den Weg hinunter in den Ort. Die ersten Häuser tauchten auf und ich schlug den gewohnten Weg zu dem kleinen Café ein. Nur das mir der Weg heute viel länger vorkam. Oder lag es daran, dass alles in mir mich zurückzog, den Berg hinauf zu ihr? Mit letzter Kraft öffnete ich die Tür und das helle Klingeln der Türglocke kam mir vor wie Engelsgesang. Moment, Engelsgesang? Wurde ich jetzt verrückt? Drei Paar Augen starrten mich an, als hätten sie den Leibhaftigen gesehen. 
„Herr Pastor um Gottes willen. Was ist denn mit ihnen passiert? Elfriede, Klara, helft mir mal.“ 
Die starken Arme des Kellners bugsierten mich auf einen Stuhl und zarte Hände öffneten meinen Kragen. Herber männlicher Geruch vermischte sich mit dem Duft von 4711
Wie aus weiter Ferne ertönte das Geschnatter der beiden alten Damen.
„Ich habe ihm ja gesagt, das es gefährlich ist, dort hinauf zu gehen. Aber nein, er wollte ja nicht hören. Und jetzt hat er den Schlamassel.“
„Ob sie ihn vergiftet hat? Wir sollten ihn ins Krankenhaus bringen.“ 
„Das glaube ich nicht. Wahrscheinlich hat sie ihn verhext.“
Mühsam richtete ich mich auf.
„Bitte, mit Frau Schulte ist alles in Ordnung. Sie ist weder verrückt, noch gefährlich. Sie möchte einfach nur allein sein.“
Und bei diesen Worten schrie mein Herz auf und ich sackte wieder auf meinem Stuhl zusammen.
„Aber Herr Pastor, was ist denn passiert? Sie sehen schrecklich aus. Und wo ist ihr Kollar?“
Ja, wo war mein Kollar? Hatte ich es in den letzten Tagen getragen?
„In meiner Tasche. Bitte, geben Sie es mir.“
Hilfreiche Hände halfen mir es anzulegen. Wie durch ein Wunder fühlte ich mich gleich besser. Dieses Folterinstrument, das mich in den letzten Jahren so gepiesackt und mir gleichzeitig so viel Geld eingebracht hatte, half mir jetzt erstaunlicherweise meine Qualen des Verlusts, zu ertragen. 


(Schule des Schreibens, Studiengang: Große Schule des Schreibens mit Schwerpunkt Sachbuch, Thema: Den Anfang und das Ende einer Geschichte schreiben, Max. 6000 Zeichen)

Bild von wendy CORNIQUET auf Pixabay

Die Kommentare sind geschlossen