In der Masche steckt der Schlüssel zur Freiheit

„Sie sprechen mit der Mailbox von – Regina Müller, Praxis für Psychotherapie und Coaching bei Handlungsstörungen, bitte hinterlassen Sie…“
„Klaus?“ Wie eine meiner selbst gestrickten Decken liegt der Schlaf auf ihrer Stimme. „Klaus, was ist los mein Junge?“
Eine kleine Ewigkeit dehnt sich das Schweigen zwischen uns aus. Sie wartet. So wie sie immer schon gewartet hat, um den Antworten Raum und Zeit zu geben, sich zu entwickeln. 
„Ich habe meine Freiheit verloren.“ 
Ich höre Regina am anderen Ende scharf einatmen. 
„Nein, nicht so. Nicht so wie damals. Es ist meine Firma. Ich weiß einfach nicht mehr weiter.“
„Was ist denn passiert?“
Ich höre Regina mittlerweile umhergehen. Im Hintergrund klappert es und das leise Blubbern der Kaffeemaschine wirkt beruhigend auf mich. Auch weil es mir zeigt, dass Regina sich Zeit für mich nimmt. Für mich da ist.
„Nichts passiert. Das ist es ja. Das ganze Tagesgeschäft läuft von selbst. Aber meine Kreativität ist verschwunden. Ich brauche neue Kollektionen. Sonst bin ich bald weg vom Markt.“
„Du übertreibst, Klaus. Weißt du noch wie es damals war, bevor wir uns kennengelernt haben?“ 
Mit der Frage stellen sich sofort die Erinnerungen ein, der Geruch beim Aufwachen zwischen leeren Flaschen und überquellenden Aschenbechern nach einer rauschenden Party. Bleierne Müdigkeit und die quälende Langeweile der Vorlesungen. Der Nervenkitzel bei jedem Drogendeal. Die Einsamkeit der U-Haft in der JVA.
„Wie sollte ich das vergessen,“ fasse ich meine Gedanken ironisch zusammen.
Ich konnte Reginas Schmunzeln durch das Telefon sehen. 
„Du bist darüber hinweg gekommen und warst die letzten Jahre äußerst erfolgreich.“
„Der Erfolg ist bald vorbei, wenn ich mich nicht wieder fange.“
„Nun dramatisier das bitte nicht so. Du bist der europaweit größte Hersteller für Gefängniskleidung. Mit deinen Seelenwärmern ist die Gewaltbereitschaft in den Haftanstalten signifikant gesunken. Deine „Jäil-Fäschn“ ist der Renner bei den Kids. Statt herum zu jammern, solltest du stolz auf dich sein und das Leben genießen.“
„Das versuche ich ja, Regina. Aber ich will arbeiten. Ich muss kreativ sein, sonst fühle ich mich wertlos.“
„Ok, was genau bekommst du nicht mehr hin? Was machst du stattdessen den ganzen Tag?“
„Ich putze meine Wohnung“, erwidere ich. 
„Du wohnst immer noch im Grandaire? Wolltest du dir nicht schon vor geraumer Zeit ein Haus kaufen?“
„Ja wollte ich. Ich konnte mich aber nicht entscheiden. Ich liebe meine Wohnung hier. Sie ist schick, klein und überschaubar. Was will ich mehr.“
„Du bist der einzige Millionär, den ich kenne, der zur Miete wohnt und dessen Wohnung nicht viel größer als eine Gefängniszelle ist.“
„Regina, ich bin der einzige Millionär den du kennst“, werfe ich ein. 
„Ja, ja, schuld daran seid ihr Knastis.“ Sie lacht herzlich. „Das hat meinen Ruf ruiniert. Aber ok, deine kleine Wohnung zu putzten kann ja nicht tagesfüllend sein. Was machst du noch?“
Ich lasse meinen Blick durch meine Wohnung schweifen. Die raumhohen Bücherregale sind nicht mit Büchern, sondern mit Wolle gefüllt. 
„Ich kaufe Wolle.“
„Du kaufst Wolle. Und was machst du dann damit?“ In Reginas Tonfall ist zu erkennen, dass sie nun voll in ihrem Therapeuten-Element ist.
„Ich lege sie zu der anderen Wolle ins Regal. Warte, ich schicke dir ein Foto.“ Obwohl mein Wollregal ein Beweis dafür ist, das ich wieder von der Prokrastination gefangen wurde, bin ich dennoch stolz darauf. Alpakawolle, Lama- und Kaschmirwolle reihen sich an Merino- und Mohairwolle. Dazwischen immer wieder Schafswolle und seltenere Wollarten von Bison, Yak und Moschusochsen. Ein Teil des Regals bleibt den pflanzlichen Wollarten vorbehalten wie Baumwolle, Leinen und Seide. Auch Acryl,-Nylon- und Polyesterfasern belegen ein Teil des Regals. Alle zusammen ergeben die Farben über die große Regalfläche ein beeindruckendes Stillleben. Am Telefon bleibt es still.
„Regina, bist du noch da?“
„Wow, das sieht toll aus?“, fragt Regina und ihre Stimme klingt begeistert. „Was machst du mit der ganzen Wolle“?
„Ich hatte gehofft, das mir neue Sachen einfallen. Ich kaufe und kaufe, aber es kommt keine tolle Idee dabei heraus.“
„Hm, ich verstehe. Klaus, das bekommen wir hin. Erinnere dich, dass sich deine Ideen im Tun einstellen. Ich möchte den Klaus wiedersehen, der für jeden seiner Mitinsassen ein eigenes Strickmuster entworfen hat. Der gesprüht hat vor Begeisterung. Ich möchte wieder ein Feuerwerk von Ideen hören.“
Ich weiß genau, was sie meint. Aber mit jedem Ihrer Worte wird der Berg vor mir ein bisschen größer.
„Wir werden wieder bei Null anfangen. Du suchst dir jetzt bitte ein Knäuel Wolle heraus, das dir gut gefällt. Dazu die passenden Nadeln. Und dann beginnen wir mit der Maschenprobe …“


(Schule des Schreibens, Studiengang: Große Schule des Schreibens mit Schwerpunkt Sachbuch, Thema: Einen Text zu einer eigenen Idee schreiben, Max. 5000 Zeichen)

Bild von congerdesign auf Pixabay

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