Meine erste begegnung mit dem Tod

Die Abendsonne schien durch die selten geöffneten Fenster und von draußen ertönte das fröhliche Geschrei spielender Kinder, die Stimmen der Nachbarn, die ungewohnten Geräusche eines Sommerabends in Norilsk. Seit Tagen wartete meine Mutter auf ihren Ehemann. Sie stand früh auf, zog ihr schönstes Kleid an und saß den Rest des Tages am Fenster. Als er endlich kam, brachte er nicht nur Blumen, sondern auch den Tod.

„Du verdammte Hure“, schrie er, „ich rackere mich ab und du vögelst mit deinem Chef herum. Und lässt dir auch noch einen Braten in die Röhre schieben. Wie blöd bist denn du?“
„Abrackern?“ Abfällig mustert meine Mutter ihren Ehemann. „Deinen Chef herumkutschieren, Partys feiern und einen auf dicke Hose machen nennst du abrackern? Wochenlang lässt du dich nicht blicken. Du schleppst du mich in diese verdammte Stadt und lässt du mich dann hier allein sitzen. Du bist so ein selbstgerechtes Arschloch.“
Mit blutunterlaufenen Augen baute er sich vor meiner Mutter auf.
„Das selbstgerechte Arschloch bringt hier die Kohle rein.“
Mit jedem Wort ging ein Regen aus Speichel auf sie nieder.
„Das selbstgerechte Arschloch steht jetzt vor seinem Chef und Freunden wie ein Idiot da.“
Brutal packte er ihr Kinn und zog ihr Gesicht zu sich heran. Sein Atem stank nach der Party vom letzten Abend. Angewidert versuchte sie, den Kopf wegzudrehen.
„Du wirst das Balg abtreiben lassen. Du wirst morgen in das verdammte Krankenhaus gehen und das Balg abtreiben lassen.“
„Nein“, erwiderte sie und weil er ihre Lippen zusammen quetschte, war sie kaum zu verstehen, „das ist Mord. Dafür will ich nicht verantwortlich sein.“
„Nein? Gut, dass ich diese Bedenken nicht habe. Dann bring ich dich eben um, du Miststück. Dann bin ich euch beide los.“
Ein gezielter Faustschlag auf ihren noch flachen Bauch ließ sie wie ein Taschenmesser zusammenklappen und zu Boden sinken. Während die Leningrad Cowboys im Hintergrund ihre Interpretation von Russlands bekanntestem Liebeslied zum Besten gaben, vollzog ihr Ehemann seinen grausamen Tanz. Mit jedem Tritt wurde meine Welt enger. Die Schreie meiner Mutter lauter, bis sie irgendwann verstummten. Mit der Stille und der Nacht kam der Tod. Er umfing mich mit seiner tröstenden Umarmung und nahm mich mit an einen Ort außerhalb von Schmerz und Verzweiflung.

Die Dunkelheit veränderte ihre Farbe und unser Spiegelbild auf der Fensterscheibe verblasste langsam. Es war so, als würde die Sonne ihre tröstenden Strahlen über die letzte Nacht legen. Stundenlang hatten wir schweigend ausgeharrt und das hektische Treiben um meine Mutter herum beobachtet. Mit dem Licht brach er sein Schweigen.
„Ich muss dich jetzt zurückbringen“, sagte der alte Mann neben mir und rutschte etwas ungelenk von dem halbhohen Schrank, auf dem wir die Nacht verbracht hatten. Auffordernd hielt er mir seine Hand hin.
„Kann ich nicht mit dir gehen“, fragte ich ihn und rührte mich nicht von der Stelle.
„Mein Junge, das geht nicht“, erwiderte er, „Gott hat seine eigenen Pläne mit dir. Ich darf dich nicht mitnehmen“.
„Aber du kannst mich nicht mit ihr alleine lassen“, bettelte ich und zeigte auf meine Mutter, die immer noch an piepsende und blinkende Maschinen angeschlossen war.
„Ihr seid nicht alleine. Schau, all diese Menschen sorgen und kümmern sich um deine Mutter und dich“.
Mit einer weit ausholenden Geste fasste er die Ärzte, die Krankenschwestern und die Menschen, die uns ins Krankenhaus gebracht hatten zusammen.
„Was ist, wenn er wieder kommt?“
„Er wird nicht wiederkommen. Das verspreche ich dir.“

Viel später erfuhr ich, dass der Ehemann meiner Mutter am darauffolgenden Tag an einem Stück Burger erstickt war. Der Tod hatte sein Wort gehalten.


(Schule des Schreibens, Studiengang: Große Schule des Schreibens mit Schwerpunkt Sachbuch, Thema: Den Übergang von einem Kapitel zum Nächsten oder einer Szene zur Nächsten schreiben, Max. 5000 Zeichen)

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