Mein Leben mit dem Tod

„Jakow, setz endlich den verdammten Kaffee auf,“ brüllte meine Mutter aus dem Bad. 
Es war eigentlich nicht nötig zu brüllen. Unsere Wohnung war so winzig, dass man sich auch flüsternd hätte verständigen können. 
„Ja, ja“, antwortete ich, verdrehte die Augen und strampelte die Bettdecke runter. 
Im Knien füllte ich akribisch genau fünf Tassen Wasser in die Maschine und maß genau die gleich Anzahl Löffel Kaffeepulver ab. Dann kuschelte ich mich wieder in meine Decke, während der Duft von Kaffee meine kleine Nische füllte und schlief wieder ein. 
Als Gott mein Leben in den unwilligen Schoß meiner Mutter legte, war sie schon jenseits der dreißig. Ihr Gesicht glich bereits damals einer Karte mit den Straßen des Lebens. Hauptstraßen für die Jahre auf der Überholspur. Einbahnstraßen, die keine Änderung des Lebens mehr zuließen. Und Sackgassen, die einfach nicht weiter führten. Es war ihre Karte von Norilsk.
Meine Eltern kamen 2002 an diesen Ort in der russischen Tundra, der eigentlich nicht für menschliches Leben gedacht war. Von oben gleicht diese Stadt einem überdimensionalen, auf den grauen Schnee gekotzten Bandwurm, der sich nährt von den Schätzen darunter und den Menschen, die danach graben. Damals lockten Karriere und der damit verbundene Wohlstand die Menschen in diese kälteste und schmutzigste Großstadt der Welt. Der Mann meiner Mutter wurde Fahrer für den hiesigen Industriegiganten. Er liebte diese Stadt, das schwierige Leben hier. Und seinen Job, der ihn und sein verdientes Geld zuverlässig von ihr fernhielt. Meine Mutter arbeitete auch. Was genau weiß ich nicht. Aber meine Entstehung war wohl eine Folge davon.

Damals begegnete ich zum ersten Mal dem Tod. Das kann auf vier Arten geschehen. Bei der ersten öffnest du ihm mit gepacktem Koffer die Tür. Und du bist bereit, mit ihm dieses Leben zu verlassen. Du hast deine Leben gelebt und es ist der letzte bewusste Umzug in ein schöneres Haus. Bei der zweiten weißt du, dass er vor deiner Tür steht. Du bist aber noch nicht bereit, diese zu öffnen. Es folgen lange Gespräche über das wäre wenn. Geheule wegen verpasster Chancen. Das Ganze hat die Anmutung einer Geiselnahme. Bei der Dritten ist es ungefähr so, als würdest du jemanden, von dem du weißt, da er sich dir irgendwann einmal begegnen wird, plötzlich im Supermarkt treffen. Der Übergang kommt plötzlich. Ob du bereit bist oder nicht.
Bei der Vierten steht er bereits vor deinem Bett. Aber du kannst noch nicht mit gehen, da das Leben noch Aufgaben für dich bereit hält. Und damit wären wir bei meinem Leben mit dem Tod.

Ich kann mich noch genau an seine beruhigende Anwesenheit erinnern, als meine Mutter ihren Ehemann über mich informierte. Es folgte eine sehr laute und handgreifliche Diskussion, bei der sich meine Mutter mehrere Rippen brach und ihr Mann danach eine Nacht bei der Polizei verbrachte. Meine Mutter mochte sich nicht moralisch verhalten, ihrem Mann nicht treu und über mich nicht glücklich sein, aber ihre Haltung zur Abtreibung war eindeutig. Und die reichte, um sich ihrem Ehemann vehement zur Wehr zu setzen. Im Krankenhaus verabschiedete sich der Tod von mir. Er löste meine festgekrallten Finger von seiner Kutte, sagte mir, dass es noch nicht so weit ist, dass ich keine Angst haben muss und Gott noch eine Aufgabe für mich bereithält. Und versprach, in meiner Nähe zu sein, wann immer ich ihn brauche.

Auch wenn meine Mutter um mein Leben gekämpft hatte. Willkommen in ihrem Körper war ich nicht. Acht lange Monate duldete er mich. Dann beschloss er, dass es genug ist und presste mich einen Monat früher als mit der Natur vereinbart aus dem aufgedunsenen Bauch. Während andere Kinder das Licht der Welt erblickten, sah ich die Straßenbeleuchtung von Norilsk. Sie nannte mich Jakow. Was so viel heißt wie „Gott möge beschützen“.

Wir teilten uns auch damals schon fünfundzwanzig Quadratmeter Plattenbau mit einer unzähligen Anzahl Topfpflanzen, die meine Mutter liebevoll hegte und pflegte. Da sie sowieso nicht kochen konnte, wurde die Kochnische hinter dem bunten Vorhang mein Zimmer. Der hübsche Efeu über meinem provisorischen Bett ersetzte das Mobile. Salz und Pfefferstreuer funktionierte sie kurzerhand um zu Babyrasseln. Bis heute, als ich längst aus der Nische heraus gewachsen bin, wirkt das fröhliche Gluckern einer Kaffeemaschine beruhigend auf mich. 

Ich glaube, dass meine Mutter deswegen damals sehr viel Kaffee trinken musste. 


(Schule des Schreibens, Studiengang: Große Schule des Schreibens mit Schwerpunkt Sachbuch, Thema: Den eigenen Schreibstil finden, Max. 5000 Zeichen)

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