Die letzte Reise – Ziel unbekannt

Last updated on Mai 19, 2021

„Was machst du hier noch Alter?“ 
Verblüfft drehe ich mich zur Seite. Neben mir hockt ein junger Adonis nackt auf dem Tresen meiner Stammkneipe und schaut mich mit gerunzelter Stirn an. Die Tatsache, dass er mich sehen kann, veranlasst mich zu der einzigen logischen Annahme. 
„Sind Sie Gott?“ 
„Es ist nicht wichtig, wer ich bin. Aber nein, ich bin nicht Gott.“ 
„Gut, ich hatte mir Gott älter vorgestellt.“ 
Ich lasse meinen Blick wieder durch die Kneipe zu meinen beiden Frauen schweifen, die sich über die Köpfe der anderen Gäste hinweg lautstark streiten. 
„Alter, warst du wirklich mit beiden zusammen? Gleichzeitig?“ 
„Ja, seit 1981.“ 
„Wie geil ist das denn. Wenn eine keinen Bock hat, gehst du halt zur anderen. Das muss das Paradies sein.“  
„Sie kommen nicht aus dem Paradies?“  
„Wie kommst du darauf Alter?“ 
Vielsagend richte ich meinen Blick auf seinen perfekten, nackten Körper. Bis mich ein Schrei ablenkt. Vor uns schlagen Susi und Renate mit ihren Handtaschen aufeinander ein. Ich will aufspringen. 
„Du kannst nichts tun.“ 
„Ja, ich weiß.“ 
In dem Moment betritt mein Anwalt die Kneipe und wirft sich sofort zwischen die prügelnden Frauen. 
„Wer ist das?“ 
„Mein Anwalt. Er wird mein Testament verlesen.“  
Das ist cool, Mann Aber warum hier in einer Kneipe?“ 
„Das war damals unsere Lieblingskneipe. Hier haben wir uns oft zu dritt getroffen, gefeiert und auf dem Tresen getanzt.“ 
„Du hast auf dem Tresen getanzt? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Du wirkst so … steif.“ 
„Erlauben Sie mal. Ich war mal genau so jung wie Sie. Wenn auch nicht ganz so attraktiv.“ 
Mit einem selbstgefälligen Lächeln wandert Adonis Blick zwischen unseren nackten Körpern hin und her. 
„Das will ich meinen.“ 
Mittlerweile hat mein Anwalt Susi und Renate mit genügend Abstand an den großen Stammtisch komplimentiert. Ruhe kehrt ein. 
„Wo kommen Sie dann her, wenn nicht aus dem Paradies?“ 
Die Frage lässt mir keine Ruhe. 
„Siehst du auf meinem Kopf irgendwelche Hörner? Alter, krieg dich wieder ein. Es gibt mehr Orte als das Paradies oder die Hölle.“ 
Etwas beruhigter wende ich meine Aufmerksamkeit wieder den drei Personen am Stammtisch zu.  
„Wie hast du es geschafft, so viele Jahre mit beiden gleichzeitig zusammen zu sein? Ich mein, das muss doch, abgesehen von doppelt so viel Sex, auch stressig gewesen sein. Sieh sie dir doch an Mann, das sind voll die Furien.“ 
Nachdenklich starre ich auf meine Knie. Anfangs hatten wir noch eine Menge Spaß zu dritt. Dann gab es immer öfters Streit zwischen ihnen. Beide wollten, dass ich mich zwischen ihnen entscheide. Aber das konnte ich einfach nicht. Es hat dann nicht lange gedauert, bis die Freundschaft der beiden dann endgültig zu Ende war. 
„Ich war selbstsüchtig.“ 
„Aha. Und die beiden waren die ganzen Jahre nur mit dir zusammen?“ 
„Nein, es gab Trennungen. Ab ich habe sie immer wieder zurückerobert.“ 
„Oh Mann, ist das krank. Du weißt, das dass das echt total schräg ist, oder?“ 
„Denken Sie, ich weiß das nicht? 
Auf dem Stammtisch steht mittlerweile ein großer Karton und mein Anwalt verliest den ersten Teil meines Testaments. Als er fertig ist, nimmt er ein Teil nach dem anderen heraus und verteilt sie auf dem Tisch. 
„Was sind das für Sachen?“ 
„Das sind Dinge aus unserer gemeinsamen Zeit in dem besetzten Haus in Neukölln. Ich habe zu jedem Teil meine Erinnerungen aufgeschrieben.“ 
Am Stammtisch fließen Tränen. Nacheinander nehmen sie alles in die Hand, lesen meine Erinnerungen und erinnern sich gemeinsam. Mein Anwalt hat sich mittlerweile an die Theke gesetzt und einen Schnaps bestellt. Es hat mich damals sehr viel Überzeugungskraft gekostet, ihn von dieser ungewöhnlichen Testamentsverlesung zu überzeugen. Aber mein Plan scheint aufzugehen. 
„Es funktioniert, Alter. Das klappt wirklich. Woher hast du das gewusst?“ 
„Gewusst habe ich es nicht, eher geahnt. Das sie, wenn ich mich von beiden trenne, wieder zu ihrer früheren Freundschaft zurückkehren würden. Und jetzt bin ich ja weg. Der verdammte Herzinfarkt hat mir die Entscheidung abgenommen.“ 
„Und wie geht dein Plan jetzt weiter?  
„Der ist hier zu Ende. Ich wollte ihnen eine Gelegenheit geben, sich wieder zu versöhnen. Was mir, glaube ich gelungen ist.“ 
„Das denke ich auch, Mann. Das hast du gut eingefädelt.“ 
Liebevoll und wehmütig betrachte ich die beiden Frauen, mit denen ich so viele Jahre mein Leben geteilt habe.  
„So Alter, dann machen wir mal los.“ 
„Los machen? Mit Ihnen? Wohin? Wer sind Sie denn jetzt eigentlich?“ 
„Das ist doch egal. Die haben mich runter geschickt, weil du immer noch hier rumhängst. Die warten alle auf Dich.“ 
„Wer ist „die“? 
„Du raubst mir echt den letzten Nerv. Wie haben die beiden es nur mit dir ausgehalten? Komm jetzt.“ 
Ich schaffe es gerade noch einen letzten Blick auf Susi und Renate zu werfen. Dann versinkt die Welt, wie ich sie kenne, im gleißenden Licht. 


(Schule des Schreibens, Studiengang Sachbuchautorin, Thema: Einen Dialog schreiben, Max. 5000 Zeichen)
 

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