Annett & Alphonse

„Pardon Mademoiselle, ist hier noch frei?“ 
Die hübsche, junge Frau mit der dunklen Sonnenbrille schaute von ihrem Buch auf. Alphonse deutete auf den freien Platz neben ihr. 
„Ja, ja natürlich“, stotterte sie, „bitte sehr, Monsieur.“
Vorsichtig schlängelte sich Alphonse an ihren Beinen vorbei und sank auf den Platz. 
„Fahren Sie auch nach Toulouse?“, fragte er. 
„Ähm, ja“, erwiderte sie. 
„Ich habe mir heute in Carcassonne die Burg angeschaut. Wussten Sie, das ‚Robin Hood‘ dort gedreht wurde?“ 
„Ja“, erwiderte sie und blickte beharrlich in ihr Buch, „viele der Einwohner haben als Statisten mitgewirkt.“ 
„Störe ich Sie? Pardon, das wollte ich nicht. Oder doch? Ich bin Alphonse.“
„Ich heiße Annett,“ erwiderte sie und blickte auf. Er war ein sehr gut aussehender Mann. Und deswegen keiner für sie.
„Und,“ fragte er, „waren Sie auch Statistin?“
„Nein, leider nicht.“
„Warum nicht? Sie sind wunderschön. Also, ich hätte Sie sofort engagiert“. 
Zögernd erwiderte sie sein offenes Lächeln. 
„Vielen Dank Monsieur. Das ist sehr freundlich.“
„Ich bin erst seit Kurzem beruflich in Toulouse und kenne dort noch niemanden. Ich möchte Sie nicht bedrängen, aber die Fahrt ist kurz. Wenn ich Sie frage, ob sie morgen mit mir ausgehen, würden Sie ja sagen?“
„Nein, das geht leider nicht“, erwiderte sie. 
Alphonse konnte ein leises Bedauern in ihrer Stimme hören. Er kramte einen alten Einkaufszettel und einen Stift aus seiner Regenjacke. 
„Ich schreibe Ihnen meine Nummer auf. Wenn Sie es sich anders überlegen, rufen Sie mich an. Ich würde Sie wirklich gerne kennenlernen.“
Zögernd nahm Annett den Zettel entgegen. 
„Ich werde es mir überlegen.“

Alphonse rieb sich die müden Augen. Er hatte die halbe Nacht wach gelegen und an sie gedacht. Zum Glück lenkte ihn die Arbeit ab. Seit dem Moment, als er die Stelle als Orthoptist in der Augenklinik angetreten hatte, war der Kalender voll. Nebenan entbrannte gerade ein lautstarker Streit zwischen den Schwestern, wer die falschen Bohrer für die Hornhautfräse bestellt hatte. Gähnend zog er seinen Kalender zu sich heran. Seine erste Patientin war Annett Durand. Sein Herz fing an zu klopfen. Blödmann, schimpfte er sich selbst. Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Er sprang auf, öffnete die Tür und blickte geradewegs in die blauesten Augen mit dem hinreißendsten Silberblick, dem er jemals gesehen hatte. Und sie gehörten Annett. 


Drei-Wort-Geschichten (Orthoptist, Bohrer, Carcassonne)

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