Um Haaresbreite

Last updated on August 4, 2021

Wie immer hat es die Anmutung eines Gemäldes, wenn der alte Fritz vor dem Stall in der untergehenden Sonne beim Abendessen sitzt. Silbernes, leuchtendes Haar. Das Gesicht vom Wetter genauso verwittert wie die grobe Holzbank unter ihm. Ein einfaches Mahl mit Marmelade und Honigbrot,an dem die Wespen ebenso viel Interesse haben wie die Hofhunde.

„Na, ihr Mädchen. Wo soll es denn hingehen bei der Hitze?“ fragt er mit schnarrenderStimme. 
„Zum Baden,“ antworte ich und zeige auf meinen Badeanzug.
„Deine Stute hat keinen Badeanzug an.“ sagt er und meint damit das fehlende Halfter.
„Du weißt ja, dass es mir nicht gefällt, wenn du die beiden einfach laufen lässt. Irgendwann werden sie sich mal in Schwierigkeiten bringen.“

„Ja, ja, ich passe ja auf.“ Leicht genervt schwinge ich mich auf Legeias Rücken und reite los. Ihre Tochter Lilli läuft lustig buckelnd voraus. Rhythmisch klackern acht Hufe ihr Lied auf dem Weg zum Waldsee. Im Wald empfängt uns wohltuende Kühle. Der weiche Waldboden und das Tannengrün verschlucken alle Geräusche und schon nach kurzer Zeit erreichen wir den See. Der Wasserspiegelist durch die lange Trockenheit tiefer als sonst. Wie auch auf den Koppeln ist hier das Gras mittlerweile dürr. Ich reite ein Stück in den See hinein und lasse mich vom Pferderücken gleiten. Das Wasser ist herrlich. Legeia watet zurück zum Ufer, zu ihrer Tochter und fängt an zu grasen. Zufrieden lasse ich mich treiben. Taub für die Umwelt, und mit Blick auf die langsam ziehenden Wolken über mir, gebe ich mich der Stille des Wassers hin.

Nach geraumer Zeit werfe ich einen Blick aufs Ufer. Die Pferde sind weg! Mist. Ich schwimme ich zurück, so schnell ich kann. Vor mir bildet sich eine kleine Bugwelle. Am Ufer überlege ich kurz, in welche Richtung die beiden gelaufen sein könnten und schlage dann den Waldweg ein, den wir sonst in Richtung Hof nehmen. Nach der ersten Wegbiegung sehe ich Legeia. Sie frisst genüsslich saftiges, grünes Gras in dem ehemaligen Gemüsegarten der alten Jägerhütte. Nur Lilli ist nicht zu sehen. Als ich näher komme, bleibt mir fast das Herz stehen. Kaum auszumachen durch das Dämmerlicht im Wald steht Lilli auf den morschen Überresten des Fußbodens. Darunter befindet sich ein Keller voller Müll und alten Möbeln. Ich nähere mich langsam dem Pferdekind. „Lilli, komm her zu mir“, rufe ich sanft. Hinter mir verleiht Legeia mit einem lauten Wiehern meiner Bitte Nachdruck. Lilli rührt sich nicht von der Stelle. Vorsichtig betrete ich den Boden der Hütte. Ein Schritt nach dem anderen nähere ich mich ihr und packe sie an der Mähne. Langsam setzt sie sich in Bewegung. Ich lasse sie an mir vorbei treten und in dem Augenblick, in dem ihre Vorderhufe festen Boden erreichen, geben die Bretter nach. Mit einem Satz kann sie sich noch nach vorn retten, aber ich falle zusammen mit den morschen Brettern in den Keller. Mein Sturz wird durch eine gammelige Rosshaar-Matratzegebremst, aber ein Brett erwischt mich am Kopf und alles wird schwarz.

Als ich wieder zu mir komme, ist die Dunkelheit hereingebrochen. Durch die Überreste des Fußbodens kann ich den sichelförmigen Mond sehen. Er erinnert mich an die kleine Blesse auf Legeias samtweicher Nase. Legeia! Lilli! Oh Gott. Hoffentlich sind sie zurück zum Stall gelaufen. Der schwache Lichteinfall reicht nicht aus, um mich zu orientieren. Schemenhaft türmen sich alte Möbel und Unrat um mich herum auf. Ich habe Glück. Die größeren Balken und Latten haben sich zwischen den alten Möbeln verkeilt. Nach einer kurzen Bestandsaufnahme von Armen und Beinen beginne ich mich im Zeitlupentempo unter dem Holzhaufen hervor zu arbeiten. Ich möchte nicht wissen, was zusammen mit dem abgebrochenen Flaschenhals noch alles auf der Matratze liegt. In der Ferne ertönen Motorengeräusche. Sie kommen näher. Mit ihr auch der Gesang einer Frauenstimme. Fritz. Ich war noch nie so froh, seine Katzenmusik zu hören. Der Motor und die Musik erstirbt. Eine Autotür öffnet sich.

„Fritz. Fritz, Hilfe“, schreie ich. 
„Sabine, wo bist du?“
„Hier unten im Keller. Hast du Legeia und Lilli gesehen? Geht es Ihnen gut?“
„Keine Sorge. Ich habe sie eben bei den anderen Stuten entdeckt. Ihnen geht es gut. Bist du verletzt?“
Mit fällt ein Steinbrocken vom Herzen. 
„Nein, nur ein paar Schrammen, denke ich. Aber mir ist kalt.“
„Jetzt müssen wir dich erst mal da raus holen, dann bekommst du eine Decke. Gib mir deine Hand.“
Fritz beugt sich weit in den Keller hinein, ergreift meine Hand und nach einem kurzen Ruck purzel ich über die Kante der Kellerwand. Am Auto wickelt Fritz mich in eine alte Pferdedecke und drückt mir einen Flachmann in die Hand.
„Nimm einen Schluck, Mädchen.“
Nachdenklich sieht er mich an.
„Ich gehe mal davon aus, dass du deine Pferde nicht mehr frei rumlaufen lässt!“
Ich nicke. Nein, frei herumlaufen lassen würde ich sie jetzt nicht mehr.


(Schule des Schreibens, Studiengang: Große Schule des Schreibens mit Schwerpunkt Sachbuch, Thema: Einen ausdrucksstarken, bildhaften Prosatext schreiben, Max. 5000 Zeichen)

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