Ein kleines Leben in Norilsk

Ich wüsste gerne, was Gott sich dabei gedacht hat, als er meiner Mutter mein Leben in den unwilligen Schoß gelegt hat. An einem Ort in der russischen Tundra, der nicht für menschliches Leben gedacht war. In der kältesten und schmutzigsten Großstadt der Welt. Entstanden auf dem Reißbrett und dem Rücken zehntausender Zwangsarbeiter. Am Leben erhalten durch arbeitswillige Menschen und ihrem Wunsch nach Wohlstand. Norilsk.

Mein Vater war Kirchenmusiker und meine Mutter Sekretärin. Beide kamen aus dem 3000 km entfernten Moskau nach Norilsk, mit dem Plan, ein paar Jahre zu bleiben, hart zu arbeiten, Karriere zu machen und dann wieder mit einem Konto voller Geld, dieser kältesten aller Städte den Rücken zu kehren. Sie lebten bescheiden. Kinder waren kein Thema. Im Gegenteil, beide waren sich einig, das eine Schwangerschaft unter allen Umständen verhindert werden muss. 

Der Winter in Norilsk dauert neun Monate, zwei davon in ewiger Dunkelheit der Polarnacht. Es gab nicht viele Möglichkeiten der Zerstreuung. Und so wurde ihre Sparsamkeit dann doch zu einem Problem. Kondome waren teuer. Also beschlossen sie, diese mehrfach zu verwenden. Was meine Entstehung letztendlich dann doch nicht verhinderte. 

Eine Abtreibung unterband die russisch-orthodoxe Kirche, also presste mich meine Mutter einen Monat früher als mit der Natur vereinbart, aus purem Trotz aus ihrem aufgedunsenen Bauch. Und während an anderen Orten die Kinder das Licht der Welt erblickten, war es bei mir die Straßenbeleuchtung von Norilsk.

Als ich wenige Wochen alt war, versuchte genau diese Kirche mir mit der Taufe mein Leben zu nehmen. Als Analogie des Sterbens und Wiederauferstehens. Das dreimalige Untertauchen bescherte mir nicht nur den Tod, sondern auch die Auferstehung und eine lebenslange Aversion gegen Wasserbecken jeglicher Art. Nicht das mein Leben lang gewesen wäre.

Die verseuchte Luft in Norilsk hatte irgendwas mit meiner Lunge gemacht. Die Ärzte behaupten, das ich im Sterben liege, wenn sie denken, das ich sie nicht höre. 

Gott sagt, dass es noch nicht so weit ist. Wenn ich doch nur wüsste, warum?


Drei-Wort-Geschichten (Kondom, Tundra, Kirchenmusiker)

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